Wesentliche Änderungen im Wahlrecht

Bei der Bundestagswahl gilt erstmals das neue Wahlrecht.  Auf dem Stimmzettel ändert sich zwar nichts - aber der Bundestag wird kleiner. Wie funktioniert das, warum können Wahlkreisgewinner auch Verlierer sein? Ein Überblick.

Die Ausgangslage

Groß, größer, Bundestag: Die Sollgröße des Parlaments lag seit der Bundestagswahl 2002 bei 598 Abgeordneten. Doch von Wahl zu Wahl wurden es in den vergangenen Jahren immer mehr - zuletzt saßen 736 Abgeordnete im Bundestag. Aus Kosten-, aber auch aus Platz- und vor allem Effizienzgründen war das stetige Wachstum ein zunehmendes Problem. Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP hatte sich eine Wahlrechtsreform vorgenommen und sie zumindest in großen Teilen gegen den Widerstand der Opposition auch umgesetzt. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte wichtige Teile der Reform, kippte aber die Ausgestaltung der Sperrklausel und schrieb bis zur geforderten Neuregelung eine Übergangsregelung vor. Bei dieser Bundestagswahl wird zum ersten Mal nach dem neuen Wahlrecht gewählt - einschließlich der von den Richtern vorgegebenen Übergangsregelung.

Wie wählt man jetzt?

So wie bisher auch. Auf dem Stimmzettel ändert sich nichts. Jeder Wählende hat weiterhin zwei Stimmen. Die Erststimme gibt man einem Direktkandidaten im Wahlkreis. Mit der Zweitstimme stimmt man für die Landesliste einer Partei. Diese Zweitstimme ist weiterhin für die Sitzverteilung im Bundestag ausschlaggebend. Die Zweitstimme entscheidet also darüber, wie stark eine Partei im Parlament vertreten ist. Dieses System der personalisierten Verhältniswahl kombiniert die Wahl von Direktkandidaten mit der proportionalen Sitzverteilung im Bundestag auf Basis der Anteile bei den Zweitstimmen. Es ist auch bei der Bezeichnung Erst- und Zweitstimme geblieben. Ursprünglich wollten die Ampel-Fraktionen sie durch die Begriffe "Wahlkreisstimme" und "Hauptstimme" ersetzen. Sie sahen dann aber ein, dass eine solche Umbenennung für Verwirrung sorgen könnte. Erst- und Zweitstimme sind bei der Wahl nicht miteinander verknüpft, das heißt, man muss nicht zwingend beide Stimmen an Kandidierende und Landesliste derselben Partei geben, sondern kann sie "splitten". Möglich ist also: Erststimme für eine Kandidatin oder einen Kandidaten der Partei A, Zweitstimme für Partei B.

Welche Folgen hat das neue Wahlrecht für die Parteien?

Für die Parteien und vor allem die Kandidaten hat das neue Wahlrecht erhebliche Folgen. Mit der Reform gewinnt die Zweitstimme an Bedeutung. Denn die Stärke der Parteien im Bundestag richtet sich künftig ausschließlich nach dem Anteil ihrer Zweitstimmen. Sitzverteilung:

Mit der Zweitstimme wählen die Wählerinnen und Wähler die Kandidatinnen und Kandidaten, die auf den jeweiligen Landeslisten der Parteien aufgestellt wurden. Die Verteilung der Zweitstimmen untergliedert sich in Oberverteilung und Unterverteilung. Die Oberverteilung berechnet, wie viele Sitze einer Partei bundesweit zustehen, basierend auf dem Zweitstimmenergebnis. Erst auf dieser Basis erfolgt im Rahmen einer Unterverteilung die Zuteilung der ermittelten Mandate an die einzelnen Landeslisten in den verschiedenen Bundesländern - sofern die Sitzzahl einer Partei nicht schon durch Direktmandate ausgeschöpft ist.

Direktmandate:

Wie bisher wählen die Wählerinnen und Wähler in den 299 Wahlkreisen mit ihrer Erststimme Direktkandidierende der Parteien. Die daraus entstehenden Direktmandate haben Vorrang vor den Listenplätzen der jeweiligen Partei - allerdings nur, solange sie durch den Zweitstimmenanteil gedeckt sind. Dieses Prinzip der Zweitstimmendeckung ist die entscheidende Änderung zum alten Wahlrecht: Wer im Wahlkreis gewinnt, ist künftig nicht mehr sicher im Bundestag. Es hängt von der Zahl der Zweitstimmen der jeweiligen Partei im betreffenden Bundesland ab, ob Kandidierende mit den meisten Erststimmen in einem Wahlkreis auch tatsächlich ins Parlament einziehen.

Rechenbeispiel

Annahme: Partei X hat 40 % der Zweitstimmen, Partei Y hat 30% der Zweitstimmen und Partei Z hat 30% der Zweitstimmen.

Mit dieser Verhältnis werden die 630 Sitzplätze verteilt. Hier spricht man von der Oberverteilung. Folglich hat:

  • Partei X hat 252 Sitze
  • Partei Y hat 189 Sitze
  • Partei Z hat 189 Sitze

Anschließend geht es zur Unterverteilung. Hier werden verteilten Sitze anhand der gesamten Zweitstimmen je Bundesland für die jeweilige Partei aufgeteilt. Um das Beispiel nicht zu komplex werden zu lassen, wird davon ausgegangen, dass es nur 3 Bundesländer (A,B,C) gibt. 

 

Partei X mit insgesamt 252 Sitzen wird nach der Auszählung mit 150 Sitzen Bundesland A, 75 Sitzen Bundesland B und 27 Sitzen Bundesland C verteilt.

 

Partei Y mit insgesamt 189 Sitzen wird nach der Auszählung mit 65 Sitzen Bundesland A, 100 Sitzen Bundesland B und 24 Sitzen Bundesland C verteilt.

 

Partei Z mit insgesamt 189 Sitzen wird nach der Auszählung mit 110 Sitzen Bundesland A, 50 Sitzen Bundesland B und 29 Sitzen Bundesland C verteilt.

 

Ergebnis Partei X:

Bundesland Sitze

gewonnen Wahlkreise

mit Erststimme

mit Zweitstimmendeckung ohne Zweitstimmendeckung verbleibende Sitze
A 150 50 50 0  100
B 75 0 0 0 75
C 27 33 27 6 0

 

Auswertung/Bewertung:

In Bundesland A hat die Partei X 50 Wahlkreise mit der Erststimme gewonnen. Somit haben die 50 Wahlkreisgewinner die Möglichkeit einen Sitz im Bundestag zu erhalten. Die Zweitstimmendeckung ergibt sich dann aus den gewonnen Wahlkreisen, darf aber niemals der zuvor ermittelten verfügbaren Sitze übersteigen. Für Bundesland A bedeutet das konkret, dass die gewonnen 50 Wahlkreise unterhalb der zur Verfügung stehenden 150 Sitzen stehen und damit alle 50 Wahlkreisgewinner in den Bundestag ziehen dürfen. Die verbleibenden 100 Sitze werden dann über die Länderliste verteilt.

 

In Bundesland B hat die Partei X durch die Erststimme keinen Wahlkreis gewonnen. Somit hat die Partei X auch keine Wahlkreisgewinner in dem Bundeland. Dennoch konnte Partei X durch die erhaltenen Zweitstimmen 75 Sitze im Bundestag, welche durch die Länderliste verteilt werden.

 

In Bundesland C hat die Partei X 33 Wahlkreise durch die Erststimme gewinnen können. Dennoch hat die Partei X durch die geringe Anzahl ein Zweitstimmen für das Bundesland C nur eine Deckung von 27 Sitzen. Damit können nur die "Besten" Wahlkreisgewinner, sortiert durch ihre die fallenden Erststimmenanteile, in den Bundestag einziehen.  Dadurch, dass alle möglichen 27 Sitze bereits durch die Wahlkreisgewinner besetzt wurden, werden die Länderlisten nicht weiter betrachtet.

Anders als vor der Wahlreform, gibt es nun keine Direkt- oder Überhangsmandate mehr. Die Zweitstimme erhält damit eine bedeutende Rolle zur Ermittlung der Sitzverteilung im Bundestag und nicht jeder Wahlkreisgewinner hat einen Sitz im Bundestag sicher.